Herr Appel, wir leben gerade in besonderen Zeiten, die heute gerne mit VUCA umschrieben werden: Volatility (Volatilität), Uncertainty (Unsicherheit), Complexity (Komplexität) und Ambiguity (Mehrdeutigkeit). Wie erleben Sie dies bei Liebherr und welche Herausforderungen verbinden sich damit für die Technologieentwicklung?

Jürgen Appel: In vielen Bereichen der Technologieentwicklung ist VUCA angekommen. Der Klimawandel, die Digitalisierung und die Globalisierung von Produktion und Lieferketten setzen dabei die Leitplanken. Unter diesen veränderten Rahmenbedingungen gilt es für Liebherr, die Baumaschinenantriebe so zu modernisieren, dass sie deutlich weniger CO2 produzieren – und das über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg. Dabei müssen wir zugleich mit immer neuen gesetzgeberischen und regulatorischen Vorgaben Schritt halten, um daraus die entsprechenden Schlüsse für die richtigen Antriebe in unterschiedlichsten Einsatzszenarien unserer Maschinen zu finden.

Was heißt dies für die Gesamtschau auf die Technik?

Jürgen Appel: Dass wir diese auf jeden Fall deutlich weiter fassen müssen als in der Vergangenheit. Denken Sie nur an die Digitalisierung der Maschinen und ihrer Prozesse. Baumaschinen leisten heute längst nicht mehr nur physische Arbeiten, sondern produzieren dabei eine Vielzahl von Daten, die den Menschen, die sie nutzen, das Leben erleichtern, aber zugleich auch für die technologische Weiterentwicklung und Prozessoptimierung verwendet werden können. Darüber hinaus bereiten die gewonnenen Daten für unsere Kunden auch Wege zu ganz neuen Geschäftsmodellen. All dies zeigt, dass bei der Entwicklung von Baumaschinen und Technologien heute weit mehr als nur klassisches Engineering gefragt ist. Es geht vielmehr um das Bündeln unterschiedlicher Kompetenzen und eine neue Qualität in der Entwicklung.

Was bedeutet das konkret?

Jürgen Appel: Stand bislang in der Entwicklung das Produkt deutlich im Vordergrund, so geht es heute auch darum, das Umfeld miteinzubeziehen und bestehende Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von vornherein mitzudenken. So macht es keinen Sinn, alternative Antriebe auf Basis erneuerbarer Energien zu entwickeln, ohne dabei deren Verfügbarkeit und den Aufbau einer entsprechenden Infrastruktur im Blick zu haben. Am Ende sollen unsere Maschinen auch tatsächlich für unsere Kunden arbeiten können.

Warum rücken alternative Antriebe erst jetzt so deutlich in den Fokus? Dass sie vor dem Hintergrund des Klimawandels und der Endlichkeit fossiler Brennstoffe gefragt sein würden, ist ja keine ganz neue, überraschende Erkenntnis.

Jürgen Appel: Das hat vor allem damit zu tun, dass der Treibstoff, allen voran Diesel, als Antriebsträger überall zur Verfügung stand und die Motorentechnologie kontinuierlich in Richtung Schadstoffreduktion weiterentwickelt wurde. Dennoch hat Liebherr seit Langem schon an alternativen Antriebskonzepten gearbeitet und hat verschiedene auch rein am Netz betriebene Maschinen im Portfolio. Mittlerweile haben sich die politischen und gesetzgeberischen Bewertungen, verschärft noch durch die Versorgungsengpässe infolge des Krieges in der Ukraine, grundlegend geändert. Das Aus von fossilen Brennstoffen ist beschlossene Sache. Um vor diesem Hintergrund rasch zu eigenständigen, praktikablen Alternativen zu kommen, sehen wir uns bei Liebherr darin bestätigt, weiterhin nicht nur auf eine Karte, wie etwa die Elektromobilität, zu setzen. Wir nehmen vielmehr gleich mehrere unterschiedliche Lösungen parallel in den Blick.

Wie geht Liebherr dabei vor?

Jürgen Appel: In Richtung zukunftsfähiger CO2-freier oder zumindest CO2-neutraler Antriebe wird es das eine, allein selig machende Konzept für alle Baumaschinen-Arbeitsfelder nicht geben. Ein kompakter Radlader im Gartenbau hat ganz einfach andere Anforderungen als ein 100-Tonnen-Raupenbagger im Bergbau auf 5.000 Meter Höhe in den Anden. Das heißt: Um Antriebskonzepte zu entwickeln, sind viele, sehr unterschiedliche Kompetenzen gefragt.

Wo kommen diese Kompetenzen her?

Jürgen Appel: Bei Liebherr sind wir dazu über die verschiedenen Produktsegmente sehr breit aufgestellt. Dieses über viele Jahrzehnte gesammelte Erfahrungswissen zu bündeln, Synergien zu schaffen und Sprunginnovationen zu ermöglichen, hatte die Familie Liebherr im Sinn gehabt, als sie vor drei Jahren im neu entstandenen Zentralbereich Corporate Technology verschiedene Zukunfts- und Entwicklungsprojekte der Produktsegmente in eigens geschaffenen, zentral koordinierten Expertengruppen zusammenführte.

Wie funktioniert ein solches Miteinander der Experten aus den verschiedenen Produktsegmenten? Lassen die sich gerne gegenseitig in die Karten schauen?

Jürgen Appel: Es gibt da überhaupt keine Vorbehalte. Im Gegenteil. Wir konnten sehr schnell Experten identifizieren, die sich mittlerweile regelmäßig spartenübergreifend treffen und sich sehr intensiv und motiviert über die anstehenden Zukunftsthemen austauschen. Dass die einzelnen Produktsegmente zu ähnlichen Themen, wie etwa neue digital getriebene Geschäftsmodelle, zu verschiedenen Lösungen für unterschiedliche Kunden kommen, liegt in der Natur der Sache. Das Produktsegment Erdbewegungsmaschinen setzt andere Prioritäten als unsere Kran-Experten. Wenn es allerdings übergreifende Fragestellungen gibt, wie zum Beispiel zur Ausstattung und Nutzung von batterieelektrischen Antrieben, macht es Sinn, die jeweils vorhandenen Einzelkompetenzen zusammenzuführen. Wir haben dazu bei Liebherr eigene Kompetenzzentren geschaffen, wie zum Beispiel in Biberach für Batterien oder in Ulm das „Liebherr-Digital Development Center“.

Und was sagen die Produktsegmente zu dieser Form der Zentralisierung?

Jürgen Appel: Sie wissen um die Vorteile, die sich daraus für das Gesamtunternehmen, aber auch unmittelbar für sie selbst ergeben. Die Produktsegmente sind und bleiben bei Liebherr schließlich weiterhin für ihre jeweiligen Produkte verantwortlich. Sie kennen den Bedarf ihrer Kunden und Zielmärkte einfach am besten. Es geht bei der übergreifenden Kompetenzbündelung also überhaupt nicht darum, zentral vorzugeben, welche Produkte mit welchem Aussehen produziert werden sollen. Die Kompetenzzentren setzen vielmehr dort an, wo ein Produktsegment an seine Kompetenzgrenzen stößt und sich im Austausch mit anderen, die an dieser Stelle schon weiter sind, neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen will.

Können Sie dafür ein Beispiel nennen?

Jürgen Appel: Da gibt es viele Beispiele auf technologischer Seite, etwa bei Batterien und der Ladeinfrastruktur oder im weiten Feld der Wasserstoffantriebe. Besonders intensiv und überaus erfolgreich war der Kompetenztransfer bei Liebherr zuletzt aber auch auf regulatorischer Seite. Zwar schwebte der Brexit schon seit der Abstimmung 2016 wie ein Damoklesschwert über den Wirtschaftspartnern, doch als es dann am 1. Januar 2021 so weit war, geriet die Verunsicherung auf beiden Seiten riesengroß, welche Regeln nun für wen gelten und was alles administrativ beim Austausch von Waren und Gütern zu beachten ist.

Wie konnten Sie bei Liebherr diesen Knoten lösen?

Jürgen Appel: Alle unsere Werke, die Geräte oder Komponenten nach Großbritannien liefern, standen mit Inkrafttreten des Brexits vor der Frage, welche verwaltungs- und zolltechnischen Voraussetzungen von heute auf morgen für den Warenverkehr zu erfüllen waren. Weil da auf beiden Seiten der Grenze große Unsicherheit und Verwirrung herrschte, haben wir sehr bald eine Expertengruppe ins Leben gerufen. Gemeinsam mit Juristen, Zollsachverständigen und Logistikern hat sie innerhalb kurzer Zeit einen unternehmensweiten Brexit-Guide erarbeitet, der nun für alle unsere Standorte gilt. So muss nicht jede einzelne Liebherr-Niederlassung mit UK-Geschäft jedes Mal aufs Neue auf Expertenseite klären, welche Angaben nach der neuen Verordnungslage auf dem Typschild zu stehen haben oder was die obligatorische „UK Declaration of Conformity“ beinhalten muss. Dieser ganz praktische Service kommt im Unternehmen sehr gut an.

Viele Wege führen nach Rom. Das ist eine Bestätigung und Bestärkung für den von uns eingeschlagenen Liebherr-Weg der Technologieoffenheit.

Jürgen Appel, Head of Technology Coordination, Liebherr-International AG

Wie wirkt sich ein solches konzertiertes Vorgehen auf die Entwicklung alternativer Antriebe aus?

Jürgen Appel: Vor einer Bewertung von alternativen Antrieben wollten wir zunächst einmal übergreifend klären, wie überhaupt der CO2-Fußabdruck von Baumaschinen aussieht. Dazu haben wir vor Kurzem mit der Wirtschaftsberatung Frontier Economics eine umfassende Lebenszyklus-Analyse der Treibhausgasemissionen von typischen Baumaschinen durchgeführt. Ein und dieselbe Maschine wurde dabei mit unterschiedlichen Antriebslösungen ausgestattet und untersucht. Dabei zeigte sich, dass es keine überlegene, einheitliche Lösung für klimaneutrale Antriebe von Baumaschinen gibt. Auch hier gilt: Viele Wege führen nach Rom. Das ist eine Bestätigung und Bestärkung für den von uns eingeschlagenen Liebherr-Weg der Technologieoffenheit, um so absolut passgenau und funktional je nach Maschine und Anwendung gesamthaft so viele Emissionen zu reduzieren wie möglich.

Was bedeutet dies für die Innovationskultur von Liebherr?

Jürgen Appel: Echte Innovationen entstehen nicht durch das bloße Abhaken vorgefertigter Meinungen. Dafür liefert die Studie einen eindrucksvollen Beleg. Bei Liebherr setzen wir schon immer auf ein ergebnisoffenes Forschen und Entwickeln mit einem klaren Fokus auf der Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit unserer Maschinen. Dazu beziehen wir bei Bedarf auch Partner ein, die beispielsweise als Start-ups etwas beweglicher und schneller sind als ein großer, weltweit agierender Konzern und so oft spannende Impulse für neue Lösungen beisteuern können.

Nach all den bisher gemachten Erfahrungen: Wie denken Sie selbst über Technologieoffenheit?

Jürgen Appel: Die Frontier-Economics-Studie belegt, wie wenig sinnvoll es ist, Engineering nach politischen oder vielleicht sogar ideologischen Vorgaben auszurichten. Innovationen müssen dem Nutzer dienen und nicht umgekehrt. Das ist Liebherr-like. Die angestrebten und notwendigen CO2-Reduktionen werden wir nur mit einer ganzheitlichen Betrachtung des gesamten Lebenszyklus einer Maschine erreichen. Das geht nicht mit technologischen Scheuklappen. Wir müssen uns vielmehr darauf konzentrieren, dass zukunftsfähige und klimarelevante Innovationen am Ende technologisch so darstellbar sein müssen, dass die Kunden damit auch arbeiten können. Dass dabei nicht nur ein Weg zum Ziel führt, finde ich super spannend und lohnend für alle, die daran mitwirken.

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