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Präzision bis ins All: Liebherr-Komponenten als Schlüssel für die neueste Generation von Radioteleskopen

Es ist nur eine kleine, unscheinbare Plakette am Sockel der gewaltigen Anlage. Umso größer ist die Geschichte, die sie erzählt. Im Mittelpunkt steht Dr. Karl-Heinz Stenvers, der im vergangenen Jahr verstorbene Radioteleskop- und Antennen-Pionier. In den 1980er Jahren konstruierte der deutsche Ingenieur einige der ersten beweglichen Parabolantennen für astronomische Zwecke. Es waren in der Folge maßgeblich auch seine Entwicklungen, die 2019 das erste Foto eines Schwarzen Lochs ermöglichten – eine Aufnahme, die um die Welt ging. Schwarze Löcher und die noch unerforschten Geheimnisse des Universums hat auch der Dr. Karl-Heinz Stenvers gewidmete Prototyp eines völlig neuen Radioteleskops hier in der Wüste von New Mexico (USA), im Visier.

Die 18 m Parabol-Antenne mit ihren 76 zu einer achtseitigen Form zusammengesetzten Aluminium-Paneelen ist himmelwärts gerichtet. In Super-Zeitlupe, fürs menschliche Auge kaum sichtbar dreht sie sich entgegen der Erdrotation. In dieser millimetergenauen Beweglichkeit steckt höchste Ingenieurskunst: 143 t Stahl, Aluminium und CFK müssen so exakt geführt werden, dass die Antenne punktgenau auf ein Objekt im All ausgerichtet bleibt. Eine mechanische Meisterleistung. Sie wird möglich durch eine Kombination aus spielfreien Großwälzlagern und Antrieben des Liebherr-Produktsegments Komponenten. Das hochpräzise Lager hat einen Durchmesser von über drei Metern. Nur so lässt sich die notwendige Steifigkeit erzielen, um riesige Radioteleskope bei Wind und wechselnden Temperaturen ohne nennenswertes Spiel zu bewegen.

Lutz Stenvers, CEO und Managing Shareholder mtex antenna technology gmbh

Vom Vater zum Sohn – ein Familienprojekt mit unendlicher Dimension

Dr. Karl Heinz Stenvers war nicht nur technischer Visionär, sondern auch ein Familienmensch. Sein Sohn Lutz wuchs zwischen Gerüsten, Stahlringen, Technikskizzen auf rosa Millimeterpapier und faszinierenden Himmelsatlanten auf. „Ich bin buchstäblich in diese Nische hineingeboren“, erzählt er. Schon als Teenager habe er seinem Vater beim Bau von Antennen geholfen und sich zugleich von der Astronomie und der Ingenieurskunst angezogen gefühlt. „Mein Vater war Maschinenbauer, ich habe Elektrotechnik studiert. Zuhause am Tisch wurde dann immer über Radioteleskope, neue Technologien oder Mechaniken und über neueste Entdeckungen im Universum diskutiert. Das muss wohl in unseren Genen liegen.“

Nach dem Studium und mit eigenen Erfahrungen im Antennbau-Geschäft stieg Lutz Stenvers letztendlich in das elterliche Unternehmen ein und übernahm 2019 die Geschäftsführung. Aus der kleinen 2014 vom Vater gegründeten Beratungsfirma wurde die hochspezialisierten Teleskopschmiede mtex antenna technology GmbH mit Standorten in Wiesbaden (Deutschland), Schkeuditz (Deutschland) und Albuquerque (NM/USA). „German Family Engineering“ nennen sie dort die Verbindung aus handwerklicher Erfahrung, modernem Engineering und familiärer Kontinuität.

Ein Array der Superlative

Der Name Stenvers hat Klang in der Astronomie-Hightech-Welt und öffnet für das Start-up Türen. „Dass der Direktor des US amerikanischen National Radio Astronomy Observatory (NRAO) knapp sechs Wochen nach der Firmengründung auf uns zukam, war allein schon bemerkenswert. Dass er uns zu einem Zeitpunkt, als wir teilweise noch auf Campingstühlen saßen, von seiner Vision einer neuen Generation von Radioteleskopen erzählte, war eine große Überraschung. Sie wurde noch größer, als dann wenig später tatsächlich der Auftrag für eine revolutionäre Teleskopentwicklung kam.“

Dazu muss man wissen, dass das NRAO weltweit für die Königsklasse der Radioastronomie steht. Es entwirft, baut und betreibt im Auftrag der US-Regierung Radioteleskope, um damit Erforschung des Universums bei Radiofrequenzen zu ermöglichen. Neben der Spitzenforschung hilft das NRAO bei der Ausbildung zukünftiger Wissenschaftler und Ingenieure und weckt das öffentliche Interesse an Wissenschaft und Astronomie. Die Teleskope des NRAO stehen dabei allen Astronomen unabhängig von ihrer institutionellen oder nationalen Zugehörigkeit offen.

Heute realisiert mtex im NRAO-Auftrag den Prototyp für das anspruchsvollste Radioteleskopprojekt unserer Zeit : das Next Generation Very Large Array, kurz ngVLA. Geplant ist eine Antennenanlage mit 244 Parabolantennen – wie der Prototyp auf der Hochebene von San Agustin, New Mexico, 18 m im Durchmesser –, die sich in einem klar definierten Muster über ganz Nordamerika positionieren. „Damit können wir Radiobilder erstellen, die hunderte Male schärfer sind als die optischen Bilder des Hubble-Weltraumteleskops (HST) und die Infrarotbilder des James-Webb-Weltraumteleskops (JWST)“, erklärt Lutz Stenvers.

Dem Entstehen von Planeten auf der Spur

Aus wissenschaftlicher Sicht ist das ngVLA ein Quantensprung. Der Astrophysiker Tom Maccarone von der Texas Tech University erwartet sich davon vor allem neue Erkenntnisse über Schwarze Löcher und Gravitationswellen. „Mit dem ngVLA können wir Strukturen in der Nähe von Schwarzen Löchern beobachten, die bisher unsichtbar waren“, erklärt er. „Es wird uns helfen zu verstehen, wie Materie unter extremen Bedingungen funktioniert und wie Sterne und Planeten entstehen.“ Auch für die Suche nach außerirdischem Leben erhofft sich die Wissenschaft neue Erkenntnisse. „Mit Hilfe von Daten, die die neuen Radioteleskope liefern, können wir die chemische Zusammensetzung von Gaswolken analysieren und so Rückschlüsse auf biologische Prozesse ziehen“, so der Astrophysiker.

Für Lutz Stenvers geht damit auch ein vom Vater geprägter Lebenstraum in Erfüllung: „Das ngVLA wird das leistungsfähigste Radioteleskop der Nordhalbkugel und eine Art Schweizer Taschenmesser für die Astrophysik. Es kann gleichzeitig die Umgebung von Schwarzen Löchern untersuchen, Magnetfelder in Galaxien vermessen und die Entstehung von Sternen beobachten.“ Genau diese Vielfalt sei es, die das Projekt für ihn und sein Team so spannend mache – und so komplex.

Schwarze Löcher – Rätselhafte Schwerkraftfallen

Schwarze Löcher sind Regionen im All, in denen extrem viel Masse in ein winziges Volumen gepresst ist. Dadurch entsteht eine so starke Gravitation, dass selbst Licht nicht entkommen kann. Astronomen sehen Schwarze Löcher daher nicht direkt, sondern nur indirekt, indem sie beobachten, wie Licht und Materie in ihrer Nähe beeinflusst werden.

Bevor Materie in einem Schwarzen Loch verschwindet, bildet sie häufig eine heiße rotierende Scheibe. Magnetische Felder und Rotation können dabei einen kleinen Teil des Plasmas in schmale Strahlen schleudern, die sich mit nahezu Lichtgeschwindigkeit entlang der Rotationsachse ins All ergießen. Diese relativistischen Jets leuchten im Radiobereich und machen viele Schwarze Löcher erst auffindbar.

Sogenannte Stellare Schwarze Löcher entstehen, wenn massereiche Sterne am Ende ihres Lebens kollabieren. In unserer Milchstraße gibt es laut Schätzungen rund 100 Millionen solcher stellaren Schwarzen Löcher, doch von den wenigen Hundert Doppelsternsystemen mit einem Schwarzen Loch wurden bislang nur etwa zwanzig nachgewiesen. Dazu kommen die supermassereichen Schwarzen Löcher in den Zentren fast aller Galaxien – insgesamt wohl etwa 100 Milliarden im beobachtbaren Universum. Oft leuchten diese zu schwach, um mit aktuellen Teleskopen beobachtet werden zu können. Die nächste Generation des Very Large Array (ngVLA) wird empfindlich genug sein, um viele dieser Schwarzen Löcher im entfernten Universum zu sehen.

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Perfekte Mechanik für das perfekte Bild

Um eine 18 m Antenne über Jahrzehnte hinweg so präzise zu bewegen, dass damit beispielsweise Objekte von der Größe eines Golfballs auf dem Mond zuverlässig fixiert und beobachtet werden können, muss jedes Bauteil höchsten Ansprüchen genügen. Liebherr fertigt für das ngVLA sowohl die Großwälzlager für die Azimutverstellung und Zahnkranzsegmente für die Elevation, als auch die Azimut und Elevationsantriebe, die den Reflektor tragen und fortlaufend auf den angepeilten Fixpunkt im Universum ausrichten. Die Dimensionen sind außergewöhnlich: Das Lager hat einen Außendurchmesser von 3,3 m. Dabei ist es als dreireihige Rollendrehverbindung ausgelegt, um enorme Kräfte aufzunehmen und dabei zugleich die erforderliche höchste Steifigkeit zu gewährleisten.

„Die Antennen müssen exakt positionierbar sein. Dieses Höchstmaß an Präzision erreichen wir nur, wenn Lager und Antrieb perfekt aufeinander abgestimmt sind“, erklärt Oliver Friedrich, Vertriebsleiter Europa bei der Liebherr-Components Biberach GmbH: Für die Produktion eines solchen High-End-Lager- und -Antriebskonzepts benötigt das Biberacher Werk fünf bis sechs Monate. Jede Komponente durchläuft nach Fertigstellung ein umfassendes Testprogramm, einschließlich Steifigkeitstests, um sicherzustellen, dass die Azimut- und Elevationsantriebe die höchsten Industriestandards nicht nur erfüllen, sondern übertreffen. Um die Präzision des Azimut-Lagers zu gewährleisten, werden beispielsweise im sogenannten „Wobble-Test“ ausgewählte Positionen mehrmals angefahren, um die größtmögliche Genauigkeit im Betrieb zu messen und sicherzustellen.

Eva-Maria Steibel-Wahl, Entwicklungsingenieurin der Anwendungstechnik Liebherr-Components Biberach GmbH

Teamwork über Grenzen hinweg

Die Ingenieurinnen und Ingenieure von mtex arbeiten eng und vertrauensvoll mit Liebherr zusammen, um die Antennenkonstruktion auf die Komponenten abzustimmen. Lutz Stenvers sieht darin eine besondere Perspektive für das Gelingen und den weiteren Projektfortschritt: „Die Entwicklung von Hochpräzisionsbauteilen für Radioteleskope erfordert sehr viel Interaktion. Unsere Ingenieure haben zusammen mit den Ingenieuren von Liebherr viele technische Meetings abgehalten, um bei den Komponenten an die physikalischen Limits zu gehen. Das hieß für uns wie auch für Liebherr, an die eigenen Grenzen zu gehen.“

Besonders freut Stenvers, dass Liebherr einen „riesigen, jahrzehntelangen Erfahrungsschatz aus der gesamten Firmengruppe“ ins Projekt mitbringe. „Gemeinsam ist es uns in nur kurzer Zeit gelungen, die Großwälzlager und Antriebe so weit zu optimieren, dass sie den ungewohnt hohen Anforderungen des ngVLA und der National Radio Astronomy Observatory entsprechen. Da geht mir das Ingenieursherz auf.“ Einmal mehr sei deutlich geworden, wie wichtig bei solchen außergewöhnlichen Technologieprojekten der Wissenstransfer unter Familienunternehmen sein kann“, meint Lutz Stenvers. „Ohne das Zusammenspiel von mtex und verschiedener Standorte und Fachgebiete von Liebherr wäre das ngVLA-Projekt nicht zu stemmen. Ich bin sicher: Mein Vater hätte an dieser Ingenieursleistung seine höchste Freude.“

„Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist der Schlüssel zum Erfolg“

Liebherr und das Universum: Für die Entwicklung von Komponenten für eine neue Generation von Radioteleskopen weitet das Werk in Biberach seine Fertigungshorizonte weiter aus. „Pionierleistung können wir bei Liebherr“, sagt Eva-Maria Steibel-Wahl, Entwicklungsingenieurin der Anwendungstechnik bei der Liebherr-Components Biberach GmbH. Sie stand in enger Abstimmung mit mtex um den herausfordernden Ansprüchen gerecht zu werden. Wir haben nachgefragt.

Bei dem ngVLA Projekt konnten wir bei Liebherr die ganze Bandbreite unseres Wissens einbringen. Sowohl unsere Expertise im Bereich Berechnung bzw. Auslegung (Berechnung der Verdrehsteifigkeit), Versuch (Versuchsaufbau und Messung der Verdrehsteifigkeit) sowie Produktion und Montage (Sicherstellung des möglichst geringen Flankenspiels) konnten abgerufen werden.

Mit mtex haben wir einen Kunden, der diese Möglichkeit genutzt und auf das geballte Wissen von mehreren Liebherr-Geschäftsbereichen, den Großwälzlagern und den Antriebe, zugegriffen hat. Und dies zudem noch auf einem sehr anspruchsvollen und hohen Niveau. Es ging in der Zusammenarbeit darum, eine Lösung zu konzipieren, die eine höchstmögliche technische Qualität in der Antennenverstellung gewährleisten konnte. Hierfür hatten wir die Freiheit des Kunden erhalten, eine Verzahnungslösung frei und sogar abweichend von den Kundenvorgabe zu empfehlen, mit der wir unser Potenzial voll ausschöpfen konnten.

Wichtig war die Anwendung und die Anforderungen des Kunden grundlegend zu verstehen und diese bei der Auslegung und Konstruktion zu berücksichtigen. Verzahnungslösungen mit einem minimierten Verdrehspiel sind für uns an sich nichts Neues und sind bei vielen technischen Anwendungen gefragt. Allerdings war hier ausschlaggebend, dass wir das Getriebe nach einer außergewöhnlich hohen Verdrehsteifigkeit und einem sehr geringen Flankenspiel ausgelegt haben. Des Weiteren hatten wir als Liebherr-Components Biberach GmbH die Möglichkeit das Großwälzlager und die Drehantriebe geometrisch aufeinander abzustimmen und somit die Schnittstelle zu optimieren. Nur so konnten wir gewährleisten, dass sich die gesamte Antenne im Mikrometerbereich ruckfrei und sicher verstellen lässt.

Für mich persönlich war besonders beeindruckend, mit welcher Leidenschaft und Expertise mtex agiert. Im Laufe des ngVLA Projektes hatte ich mit verschiedenen Personen bei mtex zu tun, bei wirklichen Allen war die Begeisterung für das Projekt spürbar, so dass unsere technischen Anmerkungen immer schnell geprüft und umgesetzt wurden. Im Laufe des Projektes hat sich eine richtige Partnerschaft entwickelt. Es war ein besonderes Erlebnis, Teil dieses Teams sein zu dürfen. Ich hatte viel Spaß, bei einem Projekt mitarbeiten zu können, bei dem beide Unternehmen eine hohe Begeisterung und Herzblut eingebracht haben.

Noch bessere Bilder durch transatlantische Kooperation

Damit die Bilder des ngVLA noch besser und schärfer ausfallen, wollen deutsche Astronomen mit ihren eigenen Teleskopen das US-amerikanische Netzwerk erweitern. Im sogenannten LEVERAGE Konzept sollen weitere Radioteleskope vom ngVLA-Typ in Deutschland und Europa aufgebaut werden. „Mit vergleichsweise geringem Aufwand lässt sich so die Bildqualität in höchster Auflösung des ngVLA signifikant steigern.“ erklärt Matthias Kadler, Professor für Astrophysik an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. „Darüber hinaus können die deutschen Teleskope auch im Verbund mit anderen Netzwerken, etwa in Südadfrika oder Asien eingesetzt werden und verschaffen so Deutschland einen strategischen Vorteil im internationalen wissenschaftlichen Wettbewerb.“ Einen ersten Schritt in diese Richtung soll mit dem Wetterstein Millimeter Teleskop erreicht werden, das schon bald auf dem höchsten Berg Deutschlands, der Zugspitze errichtet werden soll. Auf 2650 m Höhe befindet sich dort die bayerische Umweltforschungsstation „Schneefernerhaus“, die eine ideale Infrastruktur für den Betrieb eines solchen Großteleskops bietet. Der Bau eines 18 m großen Teleskopspiegels in dieser extremen alpinen Umgebung sowie der Transport der großen und schweren hochsensiblen Bauteile, wie etwas dem 4,2 t schweren und 3,3 m durchmessenden Liebherr-Azimutlagers auf den Gipfel der Zugspitze stellt eine besondere Herausforderung dar. Das Wetterstein Millimeter Teleskop wird somit sicherlich eines der spektakulärsten Bauprojekte auf Deutschlands höchstem Berg der kommenden Jahre darstellen.

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