In seinem  Kompetenzzentrum entwickelt Liebherr Elektronik und  produziert in gut organisierten Fertigungsinseln.
In seinem Kompetenzzentrum entwickelt Liebherr Elektronik und produziert in gut organisierten Fertigungsinseln.

Die Mobilfunktechnologie 5G stellt die Liebherr-Elektronik GmbH vor Herausforderungen, bietet aber auch gewaltiges Wachstumspotenzial. Automatisierung und Autonomisierung schaffen neue Geschäftsmodelle, Services und Dienstleistungen drängen die Maschine in den Hintergrund.

Autor: Stephan Köhnlein

Kettenbagger, Schubraupen, Mobilbagger – jedes dieser Baugeräte eignet sich mit seinen Fähigkeiten für bestimmte Einsatzgebiete besonders gut. Auf der Autobahnbaustelle der Zukunft arbeitet ein Gerätepark technisch und wirtschaftlich optimal abgestimmt. Dabei wissen die autonomen Maschinen, wie das angestrebte Geländeprofil aussehen soll, denn die Planungen am 3D-Modell haben sie vorher heruntergeladen.

Über ein eigenes 5G-Netzwerk kommunizieren die Maschinen verschiedener Hersteller untereinander. So lassen sich auch Logistikketten überwachen und optimieren: Wann kommen leere Lkw? Wann kommt Material? Kann der Lkw, der Teer bringt, auf der Rückfahrt Abraum mitnehmen? Die Baustelle steht nicht still, Tag und Nacht. Alle Arbeitsschritte werden digital dokumentiert. So übermitteln die Maschinen zum Beispiel beim Betonieren eines Brückenfundaments die Qualität und Beschaffenheit des Betons, Art und Zeitpunkt der Verdichtung und die Zeit, die er bis zur Baustelle unterwegs war.

30 Jahre

etwa beträgt die durchschnittliche Lebensdauer einer Baumaschine.

Das ist noch Zukunftsmusik. „Für den Gesamtprozess gibt es noch kein durchgängiges System“, sagt Roman Hofmann, Chief Engineer Research and Technology der Liebherr-Elektronik. Aber er ist sich sicher, dass solche Systeme in absehbarer Zeit kommen. Diese großen Herausforderungen, für die Liebherr sich gut aufgestellt sieht, bieten zugleich enorme Wachstumspotenziale.

IoT-Gateways müssen sich den schnellen Technologiezyklen des Mobilfunks stetig anpassen.
IoT-Gateways müssen sich den schnellen Technologiezyklen des Mobilfunks stetig anpassen.

Neue Chancen nutzen

Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie Liebherr immer wieder neue Chancen entdeckt und genutzt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg leitete Firmengründer Hans Liebherr das Baugeschäft seiner Eltern und erkannte den Bedarf an Werkzeugen und Maschinen für den Wiederaufbau. Mit Konstrukteuren und Handwerkern entwickelte er 1949 den ersten mobilen Turmdrehkran.

Einige Jahre später wurde Liebherr ein Kühlschrank-Werk zum Kauf angeboten. Bei der Beschäftigung mit dem Produkt sah er das Marktpotenzial. Nur jeder zehnte bundesdeutsche Haushalt besaß zu der Zeit ein solches Gerät. Liebherr setzte auf eigene Produktionsanlagen, ließ 1954 den ersten Kühlschrank fertigen und startete ein Jahr später die Serienproduktion. Mit Beteiligungen begann das Engagement auf dem Gebiet der Flugzeugtechnologien. Im März 1960 gründete der Firmenchef die Liebherr-Aero-Technik GmbH in Lindenberg im Allgäu (Deutschland), die 1996 in Liebherr-Aerospace Lindenberg GmbH umfirmierte. Das Ziel: eigene Komponenten und Systeme entwickeln und produzieren. Inzwischen ist Liebherr eine internationale Firmengruppe mit über 140 Gesellschaften und rund 48.000 Mitarbeitern weltweit, die im Jahr 2019 einen Umsatz von 11,75 Milliarden Euro erzielte.

Die Entwicklungsplatine eines Prototyps wird im Entwicklungslabor einer manuellen Sichtkontrolle unterzogen.
Die Entwicklungsplatine eines Prototyps wird im Entwicklungslabor einer manuellen Sichtkontrolle unterzogen.

Die Liebherr-Elektronik GmbH sitzt im idyllischen Lindau am Bodensee. Mit rund 580 Mitarbeitern ist sie eine kleinere Gesellschaft, hat aber zentrale Bedeutung. Denn egal, ob Baumaschine, Kühlschrank oder Luftfahrtindustrie – bei vielen Liebherr-Produkten spielt Elektronik eine entscheidende Rolle. Und da baut die Firmengruppe auf Technologien aus dem eigenen Haus. „Wachstum ist heute in Deutschland nur möglich, wenn Produkte aus der Menge herausstechen und auf ein Bedürfnis maßgeschneidert sind“, sagt Geschäftsführer Claus von Reibnitz. „Das können technische Merkmale sein, ein besonderer Nutzen, aber auch eine Nischenstrategie.“ Wirklich gute Ideen entstehen, wenn man sich gegenseitig inspiriere und über den Alltagskontext hinausdenke. Schmunzelnd erinnert sich von Reibnitz daran, wie vor einigen Jahren beim geselligen Beisammensein während einer Baumesse auf einem Bierdeckel die Idee für ein neues Wegmesssystem für Hydraulikzylinder entstand.

Doch Liebherr greift auch auf ein strukturiertes Ideenmanagement zurück, arbeitet interdisziplinär und profitiert gerade von der Diversität des Unternehmens. Denn das Mindset für Innovation sei unabhängig davon, ob man Kühlschränke oder Baumaschinen baue, finden die Verantwortlichen. Über das Liebherr-Ideenmanagement im Intranet können alle Mitarbeitenden Ideen und Vorschläge einreichen. Diese werden geprüft und gegebenenfalls ausgezeichnet. Das sind zum Beispiel Prämien, sichtbare Anerkennungen wie ein befristetes Parkrecht direkt beim Empfang oder Innovationspreise in den einzelnen Sparten der Firmengruppe.

Martin Lorenzen freut sich auf eine vernetzte Zukunft.
Martin Lorenzen freut sich auf eine vernetzte Zukunft.

5G für Digitalisierung nutzen

Aktuell zeichnen sich bei Liebherr-Elektronik drei große Trends ab: Autonomisierung, Automatisierung und Digitalisierung. Dabei spielt die neue Mobilfunktechnologie 5G eine Schlüsselrolle. „Das liegt vor allem an ihrer Bandbreite für große Datenmengen und den geringen Latenzzeiten, die ganz neue Möglichkeiten eröffnen“, erläutert Martin Lorenzen, Leiter der Produktlinie Gateways. Anders als der bisherige 4G-Standard ermöglicht 5G zum Beispiel die Einrichtung sogenannter Campus-Netzwerke. „So kann man unabhängig von großen Mobilfunk-Anbietern und Sendemasten eine eigene Basisstation aufbauen“, erklärt Lorenzen. Prädestiniert seien Campus-Netzwerke etwa für Autobahnbaustellen, die sich über mehrere Kilometer erstrecken und mit einem WLAN nicht abgedeckt werden können. Sie eignen sich aber auch für die Nutzung im Mining, wo die Arbeitsorte oft weit abseits heutiger Mobilfunknetze liegen.

In Zahlen

2000

ist das Gründungsjahr der Liebherr-Elektronik GmbH.

50 000 m²

beträgt die Gesamtfläche des Unternehmensareals in Lindau am Bodensee.

580

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind dort beschäftigt, rund ein Viertel davon in Forschung und Entwicklung.

Mit 5G steigen außerdem die Anforderungen an die Sicherheit. Denn je höher die Zahl der verbundenen Geräte ist und je länger diese sich im freien Feld befinden, desto mehr Einfallstore für Angreifer gibt es. „Man baut nicht nur einmal eine Firewall oder einen anderen Schutzmechanismus“, erläutert von Reibnitz. Der Prozess ist dynamisch und stellt darüber hinaus einen wachsenden Dienstleistungsbereich für das Unternehmen dar. „Es wird immer wieder böse Buben geben, die kommen mit einer Leiter, die zehn Zentimeter länger als die bisherige Firewall ist. Deswegen muss die Mauer immer höher werden.“

„Wachstum entsteht, wenn Produkte aus der Menge herausstechen und auf ein Bedürfnis maßgeschneidert sind.“

Claus von Reibnitz

Retrofit als Wachstumsfeld

Während eine Baumaschine im Schnitt einen Lebenszyklus von etwa 30 Jahren hat, ändert sich die Technik nicht nur im Mobilfunk wesentlich schneller. Retrofit heißt hier das Schlagwort: Damit werden alte Geräte für die neue Technik kompatibel gemacht. Bei Liebherr sieht man sich gut aufgestellt. „Wir verfolgen eine Strategie der Abwärtskompatibilität“, sagt Lorenzen. „Die Abschaltung von 3G trifft uns überhaupt nicht. Die Maschinen merken das nicht und können viel mehr Daten übertragen als bisher.“

Roman Hofmann beschäftigt sich unter anderem mit Retrofit.
Roman Hofmann beschäftigt sich unter anderem mit Retrofit.

Chefingenieur Hofmann stellt klar, dass es beim Retrofitten nicht nur darum geht, bestehende Maschinen am Laufen zu halten. Vielmehr könne man den Kunden einen Mehrwert in Form von neuen technischen Möglichkeiten bieten. Daher ist Retrofit eines der großen Wachstumsfelder für Liebherr. Allerdings erfordert das vorausschauende Planung: „Wir überlegen heute schon, wie 6G aussehen könnte und welche Hard- und Software wir dafür benötigen“, sagt Hofmann.

Als Technologie-Scout sieht Hofmann gerade einen Paradigmen-Wechsel in der Gesellschaft. „Früher hat man gesagt: Wer fahren möchte, muss ein Auto kaufen. Heute kaufen insbesondere junge Menschen kein Auto mehr, sondern Mobilität.“ Die Arbeitsleistung tritt in den Vordergrund. Geräte verlieren an Bedeutung. Als Beispiel werden statt des Kettenbaggers heute nun mehrere Kilometer Autobahn gekauft. „Das hat eine enorme Rückkopplung auf die Hersteller“, sagt Hofmann. Wenn die Maschine in den Hintergrund trete, sei das besonders für den Maschinenbau eine fundamentale Umwälzung.

Mithilfe eines optischen Kamerasystems werden Platinen vor dem Lötprozess stichprobenartig kontrolliert.
Mithilfe eines optischen Kamerasystems werden Platinen vor dem Lötprozess stichprobenartig kontrolliert.

Deutlich wird diese Entwicklung auch auf einem anderen Markt: dem der Kühl- und Gefriergeräte. Auch hier geht es nicht mehr nur um das Gerät, sondern um spezifische Services. „Früher oder später wird es Stand der Technik sein, dass ein Kühlschrank weiß, was in ihm gelagert wird; dass er automatisch nachbestellt und Rezepte vorschlägt“, sagt Hofmann. „Die Leute zahlen nicht mehr dafür, dass sie einen Kühlschrank haben, sondern dass sie jeden Tag frische Lebensmittel verwenden können.“

Das Team

Claus von Reibnitz ist Geschäftsführer der Liebherr-Elektronik GmbH und sieht in der neuen Mobilfunktechnologie 5G einen großen Wachstumstreiber für seine Produktlinien. Martin Lorenzen freut sich als Leiter der Produktlinie Gateways darüber, dass Konnektivität in diesem Zusammenhang kein Premiumprodukt mehr ist, sondern immer mehr in die Gesellschaft vordringt. Chief Engineer Research and Technology Roman Hofmann macht sich derweil schon Gedanken, wie eine künftige 6G-Technologie aussehen könnte.

Raum für kreative Aufgaben

Hofmann sieht in dieser Entwicklung viele Chancen. In der Arbeitswelt werde der Mensch trotz aller technischen Fortschritte mittelfristig weiterhin eine wichtige Rolle spielen. Aber man könne ihm Jobs mit hohen Belastungen und großen Gefahren immer mehr ersparen. Dafür entstehe Raum für kreativere Aufgaben. Auch Lorenzen sieht die neuen Möglichkeiten, vor allem dort, wo Maschinen miteinander verbunden werden: „Konnektivität war lange ein Thema für den Premiumbereich“, sagt er. Das ändere sich gerade fundamental. „Es ist großartig, was da alles passiert“, sagt Lorenzen, und: „Ich freue mich auf die Zukunft!“