Herr Bertsch, seit wie vielen Jahren befasst sich Liebherr-Components bereits mit digitaler Kameratechnologie? Wie hat dieses Wissen die Entwicklung Ihres 360°-Rundumsichtsystems LiXplore® Bird’s Eye beeinflusst?

Alexander Bertsch: Digitale Ethernet-Kameras für mobile Arbeitsmaschinen produzieren wir bereits seit mehr als zehn Jahren, heute in dritter Generation. Unser tiefes Know-how in diesem Bereich kommt auch nicht von ungefähr. Es basiert auf dem langjährigen partnerschaftlichen Verhältnis zu unseren Kunden und den Einblicken, die wir dadurch gewinnen konnten.

Pluspunkt für unsere Kunden ist hier sicherlich, dass wir die anspruchsvollen Bedingungen, unter denen ihre mobilen Maschinen im Einsatz sind, sehr gut kennen – starke Temperaturunterschiede, Vibrationen, wechselnde Lichtverhältnisse etc. Dieses Wissen nutzen wir, um unsere Produkte entsprechend den Anforderungen an die Robustheit zu entwickeln und zu fertigen. Die Erfahrungen aus den letzten Jahren haben uns dementsprechend auch sehr bei der Entwicklung des 360°-Rundumsichtsystems Bird’s Eye geholfen.

Meine persönliche Quintessenz aus den vergangenen Jahren Produktentwicklung? Auch wenn mal etwas nicht optimal läuft, hat es doch irgendwo sein Gutes. Aus Fehlern lernen wir.

Alexander Bertsch, Leiter Produktlinie Sensorik

Im Grunde ist es ein digitales Kamera-Monitor-System, das den fahrenden Personen eine zuverlässige Rundumsicht auf die Arbeitsumgebung ihrer Maschinen bietet. Der intelligente Algorithmus hinter dem Display-Controller erschafft die 360°-Sicht, indem er die Einzelaufnahmen mehrerer Digitalkameras zu einem Gesamtbild zusammensetzt.

Schwierige Einsatzbedingungen im Feld wie Staub, Feuchtigkeit oder Vibration sowie ein eingeschränktes Sichtfeld machen es den fahrenden Personen nicht gerade leicht. Das fängt bei klassischen Baumaschinen wie beispielsweise Radladern an, betrifft aber auch die Landmaschinen, zum Beispiel beim Erntevorgang. Auch Kommunal- und Sonderfahrzeuge stehen vor dieser Problematik.

Um auch tote Winkel abbilden und damit Personen- und Sachschäden vermeiden zu können, ist eine einwandfreie Sicht unabdingbar. Je schärfer das Bild, desto besser, denn umso einfacher und angenehmer ist die Arbeit für die Personen, die das Fahrzeug führen. Konkret gesagt: fahrende Personen, die acht Stunden am Tag in ihren Kabinen verbringen, verfügen über eine begrenzte Aufmerksamkeitsspanne – wie wir alle. Dazu kommt noch eine komplexe Bedienung der Maschine, mit der sie sich auseinandersetzen müssen. Es liegt auf der Hand, ein System einzusetzen, das dem Menschen die Arbeit erleichtert. Eine Win-win-Situation für alle Beteiligten, die fahrenden Personen und die Maschinenhersteller. Weniger Fehler gleich weniger Kosten und mehr Effizienz.

Viele Maschinenhersteller setzen bereits seit einiger Zeit Kameras zur Prozessüberwachung und Effizienzsteigerung ein. Worin liegt der Mehrwert digitaler Systeme im Vergleich zu analogen? Könnte man nicht stattdessen auch mehrere Spiegel einsetzen?

Alexander Bertsch: Die Antwort lautet: Klar, das geht, macht aber keinen Spaß (lacht). Man kann sich das wie mit einem Röhrenfernseher im Vergleich zu einem Full-HD-LED-TV mit 40 Zoll Diagonale vorstellen. Eine Digitalkamera verfügt über eine höhere Leistung, ein schärferes Bild, sattere Kontraste und weniger Verzerrungen. Es ist eben ein Assistenzsystem, das den fahrenden Personen tatsächlich Komfort verschafft. Und nicht nur das: Wenn man in die Zukunft Richtung Automatisierung, Konnektivität und Autonomisierung von Maschinen denkt, eröffnen Digitalkameras nicht nur ganz andere Funktionalitäten – sie sind auch die Voraussetzung dafür. Es macht also durchaus Sinn, hier vorausschauend zu investieren. Wir wollen aus dem „irgendwann“ ein „jetzt“ machen, um als Maschinen produzierendes Unternehmen wettbewerbsfähig zu bleiben. Die Investition in ein digitales Rundumsichtsystem ist jedoch nicht ganz kostengünstig.

Würde es nicht ausreichen, eine herkömmliche Überwachungskamera einzusetzen, und diese an die jeweilige Anwendung anzupassen?

Alexander Bertsch: Über die letzten Jahre haben wir Folgendes beobachtet: Unsere Kunden kennen die herausfordernden Umstände, unter denen ihre Maschinen im Einsatz sind, und damit auch die Anforderungen an die Assistenzsysteme. Das sind neben anspruchsvollen Umweltbedingungen im Feld auch wechselnde Lichtverhältnisse, beispielsweise, wenn unter Tage gearbeitet wird. All diese Gegebenheiten müssen aber bei der Wahl eines passenden Sichthilfsmittels beachtet werden. Unsere Erfahrungen zeigen, dass Kunden diese Anforderungen häufig unterschätzen beziehungsweise aus Kostengründen Kameras einsetzen, die für die genannten Extrembedingungen ungeeignet sind.

Ich glaube, dass es hier wichtig ist, die Gesamtinvestition zu betrachten. Bezieht man nämlich alle wichtigen Faktoren in die Entscheidung mit ein, spart man sich neben Geld und Zeit auch wertvolle Nerven. Betrachten wir ein einfaches Rechenbeispiel: Ein Baumaschinenhersteller kauft vier gewöhnliche Überwachungskameras für einen seiner Bagger. Die Bezugskosten liegen bei nur 200 Euro - eine verlockend günstige Investition. Nach dem Einbau und Testeinsatz der Sichthilfsmittel wird jedoch schnell klar, dass die Kameras mit einem zusätzlichen Schutzgehäuse ausgestattet werden müssen, um weiterhin zuverlässig zu funktionieren. Das bedeutet, dass zu den ursprünglich recht günstigen Anschaffungskosten die Kosten für die Gehäuse und die Montagekosten hinzukommen. Somit liegt man letztendlich bei dem Doppelten als ursprünglich kalkuliert.

Eine weitere Problematik besteht darin, dass Kunden häufig nicht den Gesamtprozess, der hinter dem Einsatz eines Assistenzsystems steckt, in Betracht ziehen. Vor der Inbetriebnahme müssen solche Systeme nämlich zunächst kalibriert werden, was aufgrund der komplexen Geometrie mobiler Arbeitsmaschinen häufig aufwendig und damit zeit- und kostenintensiv ist. Diese nachträgliche Anpassung wird leider oft vergessen, verursacht aber nicht zu vernachlässigende Mehrkosten.

Wir sehen, dass der Kauf einer „Standardkamera“, wie beispielsweise einer Überwachungskamera, somit leider eine Milchmädchenrechnung ist. Man kann das auch mit einem persönlichen Beispiel vergleichen. Versucht man beim Hausbau zu sparen, indem man Arbeiten trotz fehlenden Wissens selbst erledigt, anstatt Handwerkende zu beauftragen, spart man sich im ersten Moment Geld. Begeht man jedoch aus Unwissenheit „Pfusch am Bau“, rächt sich das spätestens beim Einzug. Die Bereinigung dieses Fehlers kostet letztendlich mehr, als es gekostet hätte, wenn man bereits von Anfang an Handwerkende beauftragt hätte.

Es hat sich auch gezeigt, dass besonders der Kalibrierungsprozess viele Kunden vor große Herausforderungen stellt. Stattet ein Maschinenhersteller fünf seiner Geräte mit einem Rundumsichtsystem aus, hält sich der Kalibrierungsaufwand noch in Grenzen. Sprechen wir jedoch von mehreren hundert Maschinen, sieht die Sache ganz anders aus. Daher war es uns ein Anliegen, ein zeitsparendes System zu entwickeln, das innerhalb weniger Minuten kalibriert werden kann. Konkret heißt das, dass weder die Kalibrierungsmatten exakt platziert werden, noch die Abstände zu anderen Objekten vermessen werden müssen.

Zusätzlich zur 360°-Draufsicht erlaubt unser LiXplore® Bird’s Eye den Kunden, Detailansichten und individuell anpassbare Overlays je nach Anforderung festzulegen und das Display mit den entsprechenden Funktionstasten zu belegen. Für die fahrenden Personen umso komfortabler, denn sie können per Knopfdruck schnell zwischen den Ansichten wechseln.

Wie lässt sich nun das Wesentliche Ihrer Assistenzsysteme zusammenfassen?

Alexander Bertsch: Die Eigenschaften unserer Assistenzsysteme sind das Ergebnis unserer umfangreichen Erfahrungen, die wir in den vergangenen Jahren mit mobilen Arbeitsmaschinen in unterschiedlichsten Branchen gesammelt haben. Unser Produkt ist daher sozusagen „von der Stange“, eignet sich dennoch hervorragend für den Einsatz in anspruchsvollen Umgebungen. Durch unsere ständige Nähe zu Kunden kennen wir die Anforderungen an die Komponenten bestens. Dieses Know-how nutzen wir, um unsere Produkte weiterzuentwickeln und weiterhin den größtmöglichen Nutzen zu bieten.

Welche Zukunft erwartet uns in dem Bereich Kamera-Monitor-Systeme und Rundumsichtlösungen?

Alexander Bertsch: Wie in den meisten anderen Lebensbereichen bewegen wir uns hier auf eine komplett digitale Zukunft zu. Digitale Bildverarbeitung wird in naher Zukunft selbst in einfachen Kamera-Monitor-Systemen Einzug halten.

Anstatt mehrerer einzelner Komponenten, die verknüpft werden müssen, erhält man eine Komplettlösung mit einer zusätzlichen Assistenzfunktion, die bereits auf dem neuesten Stand der Technik ist. Im Zuge der Entwicklung von Bird’s Eye haben wir uns immer wieder diese Fragen gestellt: Wie können wir den größtmöglichen Nutzen für unsere Kunden erzielen und uns gleichzeitig von anderen Anbietern differenzieren? Welche Technologien, die sich in anderen Branchen als erfolgreich erwiesen haben, bieten genug Potenzial, um sie auch an die Anforderungen mobiler Maschinen zu adaptieren? Ein Beispiel ist die Kollisionswarnung, die bereits in der Automobilbranche eingesetzt wird. Schon bald wird sie auch in den Bereich der mobilen Arbeitsmaschinen Einzug halten.

Heutige Systeme müssen erweiterte Assistenzfunktionen noch über zusätzliche Sensoren abdecken. Bei digitaler Technologie übernehmen intelligente Algorithmen diese Aufgabe. Es ist ein insgesamt schlankeres System, das mögliche Fehlerquellen reduziert und Prozesse auf der Baustelle umfassend berücksichtigt. Dazu kommt noch der zusätzliche Komfort. Eine Oberfläche, die alle wesentlichen Funktionen in Einem abbildet, ist weitaus leichter und intuitiver zu bedienen.

Analogkameras wird es auch weiterhin geben, aber ich sehe sie eher in einfacheren Anwendungen, zum Beispiel im Material Handling. Bei komplexeren Anforderungen und größeren Maschinen wie zum Beispiel Erntemaschinen werden digitale Lösungen essenziell sein. Denkt man in Richtung künstliche Intelligenz und eine vernetzte, autonom arbeitende Baustelle, die große Datenmengen verarbeiten muss, sind Digitalkameras zwingende Voraussetzung. Der Weg bis dahin ist nicht mehr weit, die wichtigsten Schritte sind getan – in der Forschung und in der Praxis. Durch gemeinsame Projekte mit Hochschulen und Forschungsinstituten schaffen wir in Lindau Synergien zwischen beiden Bereichen.

Es gibt aber noch einige Baustellen. Wer verantwortet Personen- und Sachschäden einer autonom fahrenden Maschine? Diese schon fast ethische Thematik ist, meiner Meinung nach, noch eine politische Baustelle. Assistenzsysteme müssen daher zukünftig in der Lage sein, Fehlfunktionen der Automatisierung auszugleichen und Risiken im Geschäftsbetrieb zu minimieren. Eine Balance in diesem Spannungsfeld von künstlicher Intelligenz und funktionaler Sicherheit zu schaffen, wird, aus meiner Sicht, noch eine Mammutaufgabe werden.

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